Beitrag aus der FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG,
Nr. 278, Seite 9, Deutschland und die Welt (Politik),
Montag, 28. November 2016

"Manchmal ist es ein Vorteil, gehörlos zu sein"

Der Berliner Robert Remarque Grund arbeitet in Nordkorea mit Gehörlosen – mit Zustimmung des Regimes

Herr Remarque Grund, Sie arbeiten mit Gehörlosen in Nordkorea. Wie haben Sie das geschafft, ausgerechnet da?
      Die Frage wird mir immer gestellt. Würden es mich die Leute auch fragen, wenn ich zum Beispiel in der Entwicklungszusammenarbeit für Afrika arbeiten würde? Alle Fragen: Warum denn in Nordkorea? Dabei ist es eine ganz normale Arbeit.

Aber Nordkorea gilt als verschlossen, erst recht gegenüber dem Westen.
       Am Anfang war es natürlich schwierig. Ich war 18 Jahre alt, noch Schüler und gehörlos. Wenn so einer in der Botschaft eines Landes auftaucht und sagt, er wolle ein Visum, dann würden Sie sich auch fragen: Warum? Ich bin immer wieder in die nordkoreanische Botschaft gegangen und habe so lange genervt, bis ich mein Touristenvisum bekommen habe.

Warum wollten sie so unbedingt dahin?
      Mit 15 habe ich einen Fernsehbeitrag gesehen, da hieß es, in Nordkorea gebe es keine Gehörlosen. Das konnte ich nicht glauben. 2004 war ich das erste Mal in Pjöngjang, da war ich 19. Ich habe nach Gehörlosen gesucht und keine gefunden. Ich habe noch nicht einmal Rollstuhlfahrer auf der Straße gesehen. In ganz Asien zeigen sich Behinderte oft nicht. Bei meiner dritten Reise nach Nordkorea traf ich den ersten Gehörlosen. Er fragte mich: „Gibt es auf der Welt noch andere Gehörlose?“ Da war ich sehr betroffen .

Wie haben Sie sich denn verständigt?
      Das war ein bisschen schwierig, weil ich damals noch nicht so geübt war in der internationalen Gebärdensprache. Ich hatte einen deutsch-koreanischen Dolmetscher dabei, einen Hörenden. Ich habe meine Fragen auf Deutsch aufgeschrieben, und der Dolmetscher hat das Ganze in koreanische Schrift verwandelt.

Damit hatten sie also bewiesen, dass es doch Gehörlose gibt in Nordkorea.
      Ja das war mein Ziel, und eigentlich hätte es das gewesen sein können. Aber der Weltverband der Gehörlosen war sehr überrascht. Die hatten ja auch keine Ahnung, wie es den Gehörlosen da geht. Deshalb habe ich vom Verband den Auftrag bekommen, in Nordkorea mit Gehörlosen zu arbeiten.

Von 2013 an haben Sie in Pjöngjang gelebt. Wie muss man sich das vorstellen?
      Jeder Tag ist anders. Das fängt schon beim Internet an, das nicht immer funktioniert. Darauf muss man sich einstellen. Ich habe für das Auswärtige Amt immer freitags einen Wochenplan gemacht. Am Ende der nächsten Woche war nichts von dem passiert, was ich geplant hatte.

Immerhin haben Sie einen Gehörlosenzentrum aufgebaut.
      Ja. Mit den Gehörlosen habe ich auch einen Kindergarten gegründet, es gibt jetzt einen Gehörlosenverband, eine Holzwerkstatt und das Zentrum in Pjönjang, in dem sich auch Blinde treffen.

Die Regierung hat sie beauftragt, das Zentrum aufzubauen – aber das Geld dafür mussten sie selbst besorgen.
      Ja, das war ein langer Kampf. Ich musste in Deutschland um Spenden werben, beim Thema Nordkorea sind viele erst einmal vorsichtig. Das hat lange gedauert. Auch in Nordkorea haben sie erst nicht verstanden, was ich meinte, wenn ich von einem Gehörlosenzentrum schwärmte. 2014 bin ich mit Gehörlosen aus Nordkorea zum Hauptsitz des Weltverbandes nach Finnland geflogen – das war das erste Mal überhaupt, dass gehörlose Menschen in Nordkorea einen Reisepass bekommen haben. Als dann die Gehörlosen und die Hörenden aus der Delegation in Finnland selbst sagen, was ich mit einem Zentrum meine, ging es ganz schnell. 20 Tage nach meiner Rückkehr nach Pjöngjang bekommen wir endlich einen Platz für das Zentrum im renommierten Stadtbezirk Moranbong.

Ist es schwer, mit der nordkoreanischen Regierung zusammenzuarbeiten?
      Ein Beispiel: Wir wollten mit gehörlosen Bücher entwickeln, mit denen Kinder die Gebärdensprache lernen können. Es hat anderthalb Jahre gedauert, bis wir dafür die Genehmigung hatten.

Warum?
      Die Gehörlosen sollten die Bilder im Buch selbst zeichnen, weil die Gebärdensprache unsere Sprache ist. Wir arbeiten nach dem Prinzip: „Nichts über uns ohne uns“. Weil die Gehörlosen in der nordkoreanischen Gesellschaft aber so an den Rand gedrängt sind, hat keiner geglaubt, dass sie das überhaupt können. Also haben wir zuerst Spielkarten entwickelt , die wurden von Gehörlosen gezeichnet und im Ausland gedruckt – damit wollte ich einfach zeigen , dass Gehörlose die Kompetenz haben zu zeichnen, obwohl sie oft nicht zur Schule gehen oder erst später als Hörende. Als das gelang, war das der Beweis, dass gehörlose Fähigkeiten haben. Danach konnten wir die Bücher entwickeln und in Nordkorea drucken.

Wissen Sie jetzt, wie viele Gehörlose es in Nordkorea gibt?
      In Entwicklungsländern sind es ein bis zwei Prozent der Bevölkerung. In Nordkorea sind es etwa 1,7 Prozent – eine Schätzung der Regierung. Es gibt also etwa 250 000 – 300 000 Gehörlose.

Stimmt es, dass Eltern ihre gehörlosen Kinder aus Scham nicht in die Schule schicken?
     Nicht ganz. Es gibt acht Gehörlosenschulen in Nordkorea, alle außerhalb Pjöngjangs. Das Problem ist, dass viele gar nichts von diesen Schulen wissen. Und es gibt ein Phänomen auf der ganzen Welt: Hörende Eltern von gehörlosen Kindern geben ihre Kinder nicht einfach so ab – viele wissen zum Beispiel nichts über die Gebärdensprache. Im April haben wir unseren Kindergarten in Pjöngjang eröffnet. Die Regierung hat damit gerechnet, dass 40 Kinder kommen werden – es ist ja ein sozialistisches System , die wissen also, welche Gehörlosen es gibt und wo. Tatsächlich sind aber nur drei gekommen. Das war eine Überraschung – für die Regierung, für mich aber nicht. So etwas braucht Zeit, man muss die Leute überzeugen. Inzwischen kommen schon 19 Kinder in den Kindergarten.

Können Sie sich im Land frei bewegen?
      In der Hauptstadt ja, für außerhalb brauchen selbst Nordkoreaner eine Genehmigung. Ich darf in Pjöngjang auch überall einkaufen. Die Produkte in den Diplomatengeschäften sind zu 80 Prozent aus Deutschland. Da konnte ich immerhin Königsberger Klopse in der Dose kaufen – die von meiner Mutter habe ich trotzdem sehr vermisst.

Und was noch?
      Wenn ich hörend wäre, wäre ich sehr wahrscheinlich nicht so lange in Nordkorea geblieben. Allein wegen der Lautsprecherdurchsagen des Morgengongs , des Abendgongs und der Huldigungslieder – Hörende haben erzählt , dass man sich dem nicht entziehen kann. Für meine Arbeit in Nordkorea ist es so vielleicht sogar ein Vorteil, dass ich gehörlos bin.

Was glauben sie, warum Nordkorea Sie bei Ihrer Arbeit unterstützt?
      Ich bin mir sicher, dass Nordkorea vieles ändern will. Die wollen die Ärmel hochkrempeln, um die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen zu ratifizieren. Sie müssen sich schon noch ganz schön anstrengen. Aber inzwischen sieht man Leute auf der Straße gebärden – das ist seit meiner ersten Reise in das Land ein großer Fortschritt.

2015 sind Sie mit nordkoreanischen Gehörlosen nach Istanbul zum Weltkongress der Gehörlosen gefahren. Dort gab es ein Treffen mit Südkoreanern. War das ein Beitrag zur politischen Entspannung, sozusagen über Umwege?
      Da haben sich die Gehörlosen aus beiden Ländern Koreas getroffen – da würde ich nicht so weit gehen. Das ist ein Gehörlosen-Thema, damit kann man keine Politik machen.

Aber so etwas findet ja nicht im luftleeren Raum statt.
      Das ist dann ein höchstens eine koreanische Angelegenheit, in die ich mich nicht einzumischen habe.

Sie sprechen nicht gern über die nordkoreanische Politik, oder?
      Ich spreche gerne über Politik in Deutschland. Als Deutscher geht die mich was an – nicht aber die Politik in Korea. Das sind interne Angelegenheiten. Viele fragen mich auch nach den Menschenrechten in dem Land. Da sage ich immer: „Nichts über uns ohne uns“. Über die Menschenrechte in Nordkorea sollte man nicht reden, wenn kein Nordkoreaner anwesend ist.

Wie geht ihre Arbeit weiter?
      Zwischen mir, dem Weltverband der Gehörlosen und der nordkoreanischen Regierung gibt es einen Vertrag, der läuft Ende des Jahres aus. Ich werde von Berlin aus weiterarbeiten und Gehörlosenzentren in der Provinz aufbauen.

Hier läuft übrigens die ganze Zeit laute Musik, das ist ganz schön anstrengend.
      Das könnte ich nicht aushalten. Ich muss sagen: Ich bin von Geburt an gehörlos – und ich vermisse nichts. In der Schule wurde ich gezwungen, ein Hörgerät zu tragen, elf Jahre lang, da habe ich fast ein Trauma davongetragen.

Und mit dem Gerät konnten sie etwas hören?
      Nur ein nerviges Grundrauschen. Das verstehen die Hörenden oft nicht: Wir müssen nicht hören. Was wir brauchen, ist eine bilinguale Bildung: deutsche Sprache und deutsche Gebärdensprache.

Die Fragen stellte Denise Peikert.

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